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Rede zum Erhalt des Ludwig-Rhesa-Preises

Foto: Aivaras Motuzas

Prof. Dr. Ruth Leiserowitz, Rede zum Erhalt des Ludwig-Rhesa-Preises, gehalten in Juodkrante, am 11. Januar 2020

Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Liebe Nehrungsbewohner! Guten Tag allen! Ich freue mich, dass sie so zahlreich heute hier erschienen sind!

Vielen Dank an den Stadtrat von Neringa und das Ludwig-Rhesa-Kulturzentrum dafür, dass ich diesen Preis erhalte und vielen Dank an das Thomas-Mann-Kulturzentrum, das diesen Vorschlag eingereicht hatte. Ich bin sehr erfreut darüber. Ich bekam die Nachricht gerade in dem Moment, als ich an gemeinsam mit der Übersetzerin Saskia Drude über Details der deutschen Ausgabe von dem neuen Buch von Nijole Strakauskaitė über die Geschichte des Kurorts Juodkrante diskutierte. Ich denke, dass diese Ausgabe ein Verkaufsschlager der nächsten Saison werden wird!

Aber ich fühle auch, dass mich dieser Preis zu weiterem Engagement verpflichtet. In diesem Zusammenhang möchte ich allen Mitstreitern und Mitstreiterinnen danken. Ohne sie, und hier nenne ich vor allem Vitalija Jonušienė und Lina Motuzienė, aber auch Ona Narbutienė, Vytaute Markeliūnienė, Nijole Strakauskaitė, Raimonda Meyer und viele andere gehören in die Liste der Mitstreiterinnen. Der Erfolg des Thomas-Mann-Kulturzentrums ist ein großer kollektiver Erfolg, ein Gesamtkunstwerk.

Ich werde im Folgenden über zwei Punkte sprechen: Zu einen geht es um meine Beziehung zur Nehrung und zum anderen über eine weitere Facette von Ludwig Rehsa.

Fangen wir also mit der Nehrung an. Für mich besteht sie aus drei Dimensionen: Zum einen gibt es das Meeresufer mit dem wunderbaren Strand, der wirklich einmalig in Europa ist und dem Bernstein. Hier kann man von der Ferne träumen, von anderen Ufern, von Salz und… ja, wovon? Seit einigen Jahren ist es modern, Schokolade mit Meersalz zu essen oder Karamel-Eis mit Salz. Immer schmeckt für mich da ein Stückchen Meeresgeschmack mit und in gewisser Weise hat auch Rehse das schon beschrieben, wenn er in seinem Gedicht „Lied der Bernsteinfischer“ von 1799 über die Verbindung von salziger Flut und goldenem Bernstein redet. Sie merken, ich bin auf einmal schon bei Rehse gelandet, aber ich muss noch einmal zurück zur Nehrung.

Ich habe Ihnen noch die zweite und dritte Dimension der Nehrung vorzustellen. Die zweite Dimension der Nehrung sind für mich die Dünenlandschaften, die außerordentlich fragil und geheimnisvoll sind. Klaus Mann schrieb über diese von ihm „afrikanische Landschaft“1930: „Nirgends in Europa war ich je so weit entfernt von Europa.“ Ich kann dieses Gefühl sehr tief nachvollziehen, denn immer wieder habe ich diese Exotik in der Sandlandschaft erlebt – bei zahlreichen Spaziergängen, übrigens nicht nur im Sommer, sondern vor allem im  Spätherbst, wenn das Licht geheimnisvolle Konturen schafft.

Die dritte Dimension der Nehrung ist für mich das Haff. Es hat viele verschiedene Farben, Geräusche und Launen. Und das Haff bedeutet nicht nur die Wasserfläche. Es ist ein Kulturraum, der die Dörfer der anderen Uferseite mit einschließt und die Verbindungen über das Haff, die Blicke von der einen Seite auf die andere mit einbezieht. Dieser Kulturraum  der für dialogisch funktioniert, ist alt und hat eine reiche Geschichte (wie auch die Nehrung selbst). Über diese dritte Dimension habe ich mich auch der Nehrung angenähert, denn auf dem Haff haben meine Vorfahren gefischt. Ich bekam als Kleinkind schon die Geschichte erzählt, wie meine Urgroßmutter meinem Urgroßvater das quengelnde Kleinkind dick eingewickelt zum Fischen auf das Haff mitgab. Dort bekam mein Großvater anstelle eines Schnullers einen Fischschwanz in den Mund und konnte stundenlang dem Wellenschlag gegen das Boot und dem Knarren des  Ruders lauschen und in die Wolken schauen.
Ich kam 1996 zum Arbeiten in das Thomas-Mann-Kulturzentrum, nicht, um in der Region meiner Vorfahren zu arbeiten. (Das war manchmal für das Verständnis der geschichtlichen Hintergründe hilfreich, aber nicht mehr.) Ich kam hierher, weil ich nach dem Studium eine Herausforderung suchte und genau hier auf der Nehrung konnte ich dank der Finanzierung der Robert Bosch Stiftung und dem Vertrauen des Kuratoriums des Thomas-Mann-Kulturzentrums mit vielen Mitstreiterinnen (über die ich schon gesprochen habe) Projekte durchführen, um Nida zu einem wichtigen Brennpunkt der europäischen Begegnung von Intellektuellen und Kulturinteressierten zu gestalten. Ich glaube, dass wir gemeinsam in den zweieinhalb Jahrzehnten viel auf den Weg gebracht haben und ich denke, dass wir noch viel vorhaben.

Und nun zu Ludwig Rhesa, dem wohl bedeutendsten Intellektuellen der Nehrung, der seine Kindheit und Jugend größtenteils an der Memel verbracht hat, soweit weg vom Haff, dass es fast eine Tagereise mit dem Boot brauchte, um in die Landschaft seiner Geburt zu fahren. Rhesa war eine Persönlichkeit mit vielen Facetten. Theologe, Pädagoge, Lituanist, Übersetzer und Dichter. Er gehörte zu den Allgemeingelehrten des 19. Jahrhunderts, die mit diesem Profil heute nicht mehr existieren, da sich inzwischen viele Spezialisierungen durchgesetzt haben. Aus der Gedichtsammlung von Rhesa kennen wir in der Regel das Poem „Das versunkene Dorf“ [„Nugrimzdęs kaimas“]. Ich möchte Sie heute auf einige weitere Verse von Rhesa aufmerksam machen, denn darin zeigen sich weitere Facetten seiner Vielseitigkeit, seines Interesses und seiner Zugewandtheit zum Leben. Wie genau beschreibt er im „Lied der Bernsteinfischer“ den Westwind, der herrschen muss, damit die Männer ihrer Tätigkeit nachgehen können. Wie präzise bestimmt er die morgendliche Tageszeit und den bestimmten Klang des Meeres. Es scheint, als habe er jahrelang intensiv zugesehen, dabei war er doch in Kaukehmen und später in Königsberg.

Aber aus seiner Biografie geht hervor, woher er dieses Wissen haben könnte. Martin Ludwig Rhesa war das jüngste von acht Kindern, die Mutter starb, als er kaum zwei Jahre alt war, dann kam eine Stiefmutter ins Haus. Der Vater Johannes Rhea war Wirtshausbesitzer und Strandaufseher. Zu seinen Pflichten gehörte es Schiffbrüchigen zu Hilfe zu kommen und die Bernsteinfischerei zu beaufsichtigen. Wir können uns ganz gut vorstellen, dass der klein Ludwig den Vater an den Strand begleitete und aufmerksam beobachtete, wie die Bernsteinfischerei vonstatten ging.

Litauische Literaturwissenschaftler bewerten das Gedicht wie folgt:“Das ganze Werk lässt sich als Ode an den Bernstein bezeichnen, […] der Dichter zeigt auf, dass Bernstein schon im 10. Gesang der Ovidschen ‚Metamorphosen‘ erwähnt wurde. Ich meine aber, dass Rhesa auf künstlerische Art vermocht hat, frühe Kindheitseindrücke mit später erworbenen Details klassischer Bildung zu verbinden. Den Ausgangspunkt bot jedoch die Beobachtung in der frühen Kindheit und die Faszination für diese Tätigkeit. 

Allerdings scheint er seine Heimatprovinz gut gekannt und zahlreiche wichtige Orte besucht haben, anders könnte er kein Gedicht über „Die Ruinen von Balga“ (die alte Ordensburg am Frischen Haff) oder „Die Linde von Rössel“ (ein Städtchen im heutigen polnischen Teil Ostpreußens). In all seinen Beschreibungen verbindet er Präzision mit seinem fundierten Wissen, denn immer wieder flicht er Beziehungen zu Geschichte und Mythologie ein. Er ist ein hervorragender Beobachter seiner Heimatlandschaft und er nimmt genau Naturerscheinungen und Naturgewalten wahr.

Ich zitiere aus seinem Gedicht „Der Feierabend. An der Ostsee 1798“:

„Der Tag, der Müde geht zur Gruft/Vom Belt entsteigt ein Purpurduft/Und flimmt an Samlands Tannenhain/Wie blasser Leichenfackelschein.“

Genau diese letzte seiner Fähigkeiten begegnete mir erneut bei der Lektüre, als ich mich mit unserem kommenden 24. Thomas-Mann-Festivals befasste, das unter dem Titel „Wetterzeichen“ steht und bei dem wir über das Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur sprechen werden. Schon Rhesa hat nicht nur den Dünensand als Naturgewalt erlebt, er wurde auch Zeuge einer schrecklichen Sturmflut am 3. November 1801, den er in seinem Poem „Der Sturm“ beschrieben hat (Er wurde in Königsberg Zeuge dieses schrecklichen Unwetters, aber auch die Stadt Memel wurde von dieser Naturgewalt schrecklich betroffen). Der Dichter fragt hier Gott nach dem Sinn solcher Unwetter. „Herr, warum sendest Du/mit Graun und Schrecken sie?“

Aber er erhält keine Antwort und er verfasst das Gedicht zur Erinnerung an die Schreckensnacht für die nachfolgende Generation quasi als Warnung. Da haben wir Ludwig Rhesa als einen eindrücklichen Beobachter und poetischen Berichterstatter seiner Region und deren Natur (neben allen seinen anderen Talenten und Funktionen). Ich denke, viele seiner Facetten – trotz des nun schon 244. Geburtstages, sind heute noch aktuell und wir und auch Sie können neue Herausforderungen darin finden.


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